Lernspiele für die Schule – Warum Videospiele in den Unterricht gehören

Videospiele im Schulunterricht

Videospiele können Wissen vermitteln, das steht außer Frage. Das macht sie als Lernspiele nicht per se besser als andere Lehr- und Lernmittel, die im Schulunterricht Einsatz finden. Aber ihre spielerische, prozedurale und (virtuell-)räumliche Natur ermöglicht eine partizipatorische Art der Wissensvermittlung, die sie von anderen analogen Materialien sowie digitalen Anwendungen unterscheidet – und diese sinnvoll komplementieren kann.

Doch Lernspiele als Unterkategorie der „Serious Games“ kratzen meiner Meinung nach bisher nur an der Oberfläche des inhärenten Potenzials von Videospielen. Vor allem Lernspiele, die für Schüler entwickelt wurden und sich inhaltlich nach den deutschen Lehrplänen richten, sind eher Lernapplikationen mit Gamification-Elementen, welche die grundlegenden Eigenschaften eines Computerspiels nicht ansatzweise nutzen.

In meiner Schulzeit gab es beispielsweise die als Lernspiele deklarierte Software-Sammlung „Addy“ für verschiedene Schulfächer und Klassenstufen. Die Lerninhalte sollten hier in spielerischer Form vom Außerirdischen Addy präsentiert werden. Die Spieler konnten in seinem Raumschiff mit verschiedenen Objekten interagieren und von dort zu den Lerninhalten gelangen.

Aber: Die eigentlichen Aufgaben, die Wissen vermitteln sollten, hätten so exakt aus den Lehrbüchern der Schulen stammen können – nur dass sie hier nicht analog auf Papier mit einem Stift, sondern digital auf dem Bildschirm mit Maus und Tastatur bearbeitet werden mussten. Klar, es gab einige Gamification-Elemente wie das automatische Vergeben von Punkten, doch das eigentliche Lernen durch das spielerische Explorieren einer virtuellen Umgebung fand bei der Wissensvermittlung und -abfrage nicht statt.

Schlimmer noch: Als „Belohnung“ zwischen den Aufgaben durften sich die Schüler trivialen Mini-Spielen zuwenden, die mit den eigentlichen Lerninhalten nichts zu tun hatten. Diese Aufteilung halte ich nicht nur für verschwendetes Potenzial, sondern für schlichtweg falsch: Spielen wird als belanglose Zeitverschwendung geframed, während das eigentliche Lernen mit unangenehmer Arbeit und Buckelei konnotiert wird.

Gute Lernspiele bzw. Serious Games bewirken genau das Gegenteil und nutzen die spielerischen Elemente dazu, um Lernen in sinnvoller Weise mit Spaß und Neugier in Verbindung zu bringen.

Auch wenn Lernspiele allein schon budgetär nicht mit ihren großen Geschwistern aus der Unterhaltungsindustrie mithalten können, so sollten sie ihnen zumindest in den Grundprinzipien ähneln und so interessant bzw. spaßig sein, dass sie aus intrinsischer Motivation heraus unabhängig vom extrinsischen Zweck des Lernens gespielt werden. Bestenfalls versetzen sie die Spieler in den für Videospiele typischen Flow-Zustand, sodass das Lernen ganz „nebenbei“ stattfindet.

Was unterscheidet Videospiele von anderen Lehr- und Lernmaterialien?

Listen wir zunächst einige Eigenschaften auf, die Videospiele von anderen Materialien und Anwendungen unterscheiden:

  • vielschichtige Partizipativität im Kontrast zu simpler Interaktivität: Durch komplexe und affektive Partizipationsmöglichkeiten werden Spieler zu einem Teil der virtuellen Umgebung, anstatt lediglich mit bestimmten maschinellen Elementen nach einem simplen Reiz-Reaktions-Schema zu interagieren.
  • Räumlichkeit: Spieler haben in der Regel die Möglichkeit, sich durch einen virtuellen Raum zu navigieren und diesen zu explorieren. Dieser muss nicht komplex oder dreidimensional sein – nicht einmal visuell, wie Textadventures beweisen, die lediglich an die Phantasie der Spieler appellieren.
  • Immersion: Beide oben genannten Punkte können – oftmals in Verbindung mit einer wie auch immer gearteten Narration – zu einem „Eintauchen“ in die digitale Welt führen, zu einem temporären Vergessen der realen Außenwelt.
  • Prozeduralität und Adaption: Videospiele unterliegen als Software den Prozessen der Datenverarbeitung. Das bedeutet, dass sie Regeln folgen, die zuvor im Quellcode festgeschrieben wurden. Durch diese Regelhaftigkeit können sich Lernspiele an den Wissensstand, das Können und/oder den Fortschritt der Schüler jederzeit flexibel anpassen.

All diese Aspekte führen dazu, dass sie Prozesse jeglicher Art, aber auch realwirkliche Orte und Ereignisse auf einzigartige Weise simulieren und somit bis zu einem gewissen Grad erlebbar machen können. Durch Videospiele können Erfahrungen vermittelt werden, die sonst nicht oder nur unter sehr hohem Aufwand möglich wären.

Das selbstständige Erkunden eines Vulkans? Das Begleiten einer Mahlzeit durch den menschlichen Körper? Das Ausprobieren von Eroberungsstrategien im römischen Kaiserreich? Videospiele können all diese Erfahrungen in den Schulunterricht bringen.

Und nicht nur das: Spielen liegt in der Natur von Mensch und Tier, ist also die didaktischste Methode der Welt, einfach ausgedrückt. Kinder lernen im Spiel durch das Erschließen und Konstruieren von Wirklichkeit. Spielen gibt ihnen die Möglichkeit, sich ohne Gefahr oder Angst vor Fehlern auszuprobieren und ihrer Neugier sowie ihrem Entdeckungsdrang nachzugehen. Im Spielen üben und wiederholen sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten, um sie später in realen Situationen anwenden zu können.

All das ermöglichen Videospiele in einer Art, wie es das analoge Spiel in Bezug auf die spezifischen Inhalte des Lehrplans nur ansatzweise erlaubt. Das bedeutet nicht, dass sie das analoge Spiel oder andere Formen der Wissensvermittlung ersetzen sollten, aber sie würden diese als Teil des Unterrichts komplementär bereichern.

Zudem sei angemerkt, dass das häufige Spielen von Games auch andere nachweisliche Vorteile mit sich bringt, wie etwa eine Verbesserung der Hand-Augen-Koordination, der Reaktionsgeschwindigkeit, des räumlichen Denkens oder der Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu lösen – je nach gespieltem Genre. Doch diese eher peripheren Effekte sollen hier keine Rolle spielen.

Lernspiele und Serious Games im Schulunterricht

Um zu erkennen, dass sich Videospiele als Wissensvermittler im Unterricht eignen, schauen wir uns zunächst in aller Kürze an, welche Wissensformen es überhaupt gibt. In der Wissenschaft wimmelt es von verschiedenen Unterteilungen, ich aber möchte der Taxonomie der Kognitionspsychologen de Jong und Ferguson-Hessler folgen. Gemäß dieser gibt es folgende Arten von Wissen:

  • situationales Wissen: Wissen über typische Probleme und Abläufe in bestimmten Situationen und Domänen
  • konzeptuell-semantisches Wissen: dies umfasst sämtliches Wissen über Fakten, Begriffe und Prinzipien
  • prozedurales Wissen: Wissen über Handlungen und Abläufe physischer oder abstrakter Art
  • strategisch-metakognitives Wissen: dieses „Wissen über Wissen“ liegt auf einer reflektorischen Metaebene, sprich es handelt sich hierbei über eigene situationsübergreifende Lern- und Problemlösungsstrategien

In der Schule werden alle vier Wissensformen vermittelt, jedoch spielt das konzeptuell-semantische Wissen wohl die größte Rolle, gefolgt vom strategisch-metakognitiven Wissen. Wie wir gelernt haben, besitzen Videospiele alle nötigen Eigenschaften, um diese Wissensarten zu vermitteln und zu unterstützen. Sie können Situationen simulieren, Faktenwissen anschaulich präsentieren, Abläufe greifbar machen und strategisches Denken fördern.

Doch bei Lernspielen, die in der Schule genutzt werden sollen, kommt es nicht nur auf die reine Wissensvermittlung an. Sie müssen didaktisch sinnvoll in den Unterricht integriert werden, weshalb Spielentwickler auf die Mitarbeit der Lehrer angewiesen sind und über ein grundlegendes Verständnis für den Aufbau einer Unterrichtsstunde verfügen sollten.

Das Spiel muss beispielsweise an das Thema heranführen und dabei an bereits bestehendes Vorwissen der Schüler anknüpfen. Bestenfalls handelt es sich um ein Multiplayer-Spiel, in dem Schülergruppen einander helfen und gegensätzliche Positionen einnehmen müssen. Zudem sollte dazu motiviert werden, sich außerhalb des Spiels strukturiert über die Inhalte auszutauschen, damit die Schüler das Gelernte selbst zusammenfassen und in Diskussionen auf soziokognitive Dissonanzen stoßen können, die zu einem lernwichtigen „Aha“-Moment im Austausch mit ihren Mitschülern führen.

Dies sind nur einige wenige Aspekte, die bei der Erstellung von Videospielen für den Unterricht bedacht werden müssen. Welches Genre sollte ein Spiel haben, um bestimmte Fachbereiche am besten zu präsentieren? Wie ist die Spielwelt gemäß den Lerninhalten zu strukturieren? Wann und wie sollte Hilfestellung durch das Spiel geboten werden? Wie hat ein Mehrspieler-Modus auszusehen? Welche Spielregeln treffen welche realweltlichen Aussagen?

Auf diesem Blog versuche ich, viele dieser Aspekte zu untersuchen, um sowohl Entwicklern von Lernspielen als auch Lehrern dabei zu helfen, Spiele sinnvoll in die Schule zu integrieren. Als Fundament für die Beantwortung all dieser Fragen dienen mir die Disziplinen der Lernpsychologie, der Rhetorik und der Game Studies, deren Grundlagen ich ebenfalls hier vorstellen werde. Bleibt also gespannt!

Meine gesamte Masterarbeit, in der ich einen rhetorischen Leitfaden für Entwickler von Lernspielen speziell für den Unterricht entwickelte, wird in Kürze in einer aktualisierten Fassung vollständig herunterladbar sein.

Bis Videospiele Einzug in die Lehrpläne finden, ist es noch ein weiter Weg. Werden Lernspiele jedoch speziell für diese entwickelt und auf Grundlage von breiten Studien immer weiter verbessert, ist es in Zukunft vielleicht möglich, die Kultusministerien mit Hilfe einer engagierten und offenen Lehrerschaft davon zu überzeugen, digitale Lernspiele als sinnvolle Unterrichtsmaterialien anzuerkennen und einzuplanen. Dann wird das Erstellen von Serious Games auch für Entwickler (finanziell) attraktiver, was dazu führt, dass Videospiele künftig nicht nur der Unterhaltung, sondern auch einem der höchsten Güter der Menschheit dienen: der Vermittlung von Wissen.

Anmerkung: Übrigens sollten auch Videospiele aus der Unterhaltungsindustrie im Schulunterricht besprochen werden, um die Schüler beim Aufbau einer umfänglichen Medienkompetenz zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, Videospiele, deren Genres und Narrationen einordnen zu können.


Quellen u. a.:

  • Bogost, Ian (2007): Persuasive Games: The Expressive Power of Videogames. New York: MIT Press.
  • de Jong, Ton / Ferguson-Hessler, Monica G. M. (1996): Types and Qualities of Know­ledge. In: Educational Psychologist. Bd. 31, Ausg. 2. London: Routledge. 105–113.
  • McGonigal, Jane (2012): Besser als die Wirklichkeit! Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern. München: Wilhelm Heyne Verlag.
  • Mogel, Hans (2008): Psychologie des Kinderspiels. Von den frühesten Spielen bis zum Computerspiel. 3., erw. Aufl. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.
  • Murray, Janet H. (1999): Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. 2. Aufl. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
  • Seidel, Tina et al. (2014): Pädagogische Psychologie. 6., vollst. überarb. Aufl. Tina Seidel und Andreas Knapp (Hrsg.). Weinheim / Basel: Beltz.